Sorry, lieber Regenwald

Wir lieben Eltern in Home-Schooling und Home-Kindergarten können uns an dieser Stelle nur ganz, ganz sehr entschuldigen, dass uns und unseren ungeschulten Lernfähigkeiten der Regelwald zum Opfer fällt. Aber ich will ja nicht allen die Schuld auf die Schulter legen, sondern schreibe heute nur über mein schlechtes Gewissen und meine Schuldlast in dieser wichtigen Frage.

Georg ist nun schon seit unglaublichen 7 Wochen zu Hause und hat somit das Prädikat „Survivor“ redlich verdient. Denn auch wenn wir uns immer lauthals beschweren, wie stressig es zur Zeit ist, so ist es sicherlich doch für ihn noch viel härter. Er hat keinen Kontakt zur Außenwelt und sitzt hier fest, wenn man mal von Videochats mit Großeltern und Freunden absieht. Ständig muss er es seinen „Wir-müssen-arbeiten-Eltern“ bzw. seinen „Wir-haben-keine-Zeit-Eltern“ recht machen und am besten die Home-Kindergarten-Zeit alleine meistern. Und da Georg ein wirklich ganz, ganz liebes Kind ist, im Alleinspielmodus ganze neue Welten erschaffen kann, eine realistische Version von Stormtroopern im Mittelalter erschafft, oder meinen gesamten Bastelschrank verbastelt, haben wir Erwachsene Vollzeitarbeiter den Vorteil, dass wir diesem Spieltrieb auch nachgeben können und gleich mehrere Telefonkonferenzen am Stück erleben bzw. überleben.

Gelegentlich haben wir aber auch eine Telefonkonferenz-Pause und da versuchen wir diesen Spieltrieb noch weiter Futter zu geben. Entweder darf ich in solchen Fällen Obi-Wan Kenobi sein und nach einem genau vorgegebenen Drehbuch meines Sohnes gegen Darth Vader kämpfen. Ob ich hier gewinne oder verliere, hängt nicht etwa von meinem Improvisationstalent ab, sondern eher von der Tagesform meines Sohnes. Aber einem Fünfjährigem entsprechend muss ich meistens sterben, damit er der Sieger und Held ist. Apropos Improvisationstalent, dieses ist überhaupt gar nicht gefragt wenn ich mit Georg spiele. Denn schließlich hat Georg das Drehbuch geschrieben und da habe ich mich gefälligst detailgetreu dran zu halten. Wehe, ich will mal spontan in Friedensverhandlungen treten, oder mit Prinzessin Leia einen Kaffee trinken. Dann wird mir das Loch in der Wand gezeigt und der Papa darf meine Rollen übernehmen. So schnell ist man hier gedisst. Als Mutter wollte ich die harmonische Puppenspielvariante einbringen, etwas Harmonie und Liebe. Doch im Reich der männlichen Hormone bin ich kläglich gescheitert.

Was besser als Mutter klappt, ohne dass ich Georg in ein Kleid zwingen muss und ihm Zöpfe pflechten will, ist das Basteln und Malen. Damit kann ich meinen Sohn immer begeistern. Allerdings beim Thema Malen kommt der Punkt, wo wir nochmals die Schuldfrage gegenüber dem Regenwald klären müssen. Georg ist so ein begeisterter Maler, dass ich schätze, täglich geht ein fußballfeldgroßes Regenwaldgebiet drauf. Meist will er ausmalen. Natürlich auch die Protagonisten aus seinen neu erschaffenen Welten.

Ich habe es zuerst mit Ausmalbüchern versucht, musste allerdings feststellen, dass so ein hundertseitiges Ausmalbuch nur maximal für einen Ausmaltag im Home-Kindergarten ausreicht. Da geht es mehr nach Masse, als nach Klasse. Wobei ich natürlich die gemalten Bilder meines Sohne mit Werken von Monet und Picasso gleich setze. Aber die haben ja schließlich auch nicht nur ein Bild im Jahr gemalt. Also kommt nach Masse irgendwann auch Klasse.

In der zweiten Stufe malt er nun freihändig, da alle Ausmalbücher keinen einzigen weißen Flecken mehr beinhalten. Auch will ich Herrn Bezos nicht noch reicher machen und ständig Kistenweise Ausmalbücher kaufen. Im Second-Hand-Handel gibt es hier auch keine Abhilfe, denn andere Kinder sind ähnlich drauf wie mein Sohn. Doch Gott-sei-Dank steht im Arbeitszimmer eine große Kiste Druckerpapier. Und selbst wenn ich den ganzen Tag wichtige Arbeitsinhalte ausdrucken würde, komme ich niemals auf seinen Tagesverbrauch an Papier. Pro Blatt Papier kommt halt manchmal nur eine Giraffe drauf, eine schöne Giraffe, aber halt nur EINE Giraffe. Dann ist das Blatt in seinen Augen voll und kommt in die Erinnerungsbox, die mittlerweile die Ausmaße eines Schiffskontainers annimmt. Rückseiten sind maximal dafür da, dass sie eine Agenda/Beschreibung über das Gemalte enthalten, inklusive Künstlernamen und Datum des Originals. Also an dieser Stelle nochmals sorry an den Regenwald. Sobald ich wieder reisen darf, werde ich Dich persönlich aufforsten.

Kommen wir nun zu mir. So eine Home-Kindergärtnerin will gelegentlich auch mal ein paar Erfolge feiern, und so versuchen wir die Einschulung um zwölf Monate vorzuziehen, falls Einschulungen früher als Kindergartenbesuche erlaubt werden. Wir üben nun schonmal Buchstaben und das Schreiben. Das Worldwideweb bietet hierfür ja unendlich viele Vorlagen für übermotivierte Eltern an, die ihre Supergenies schon direkt nach der Entwöhnung von der Muttermilch selbst unterrichten, oder soll ich dressieren sagen, möchten.

Georg fing natürlich mit „Georg“, „Mama“, „Papa“, „Oma“, „Opa“, den restlichen Familienmitgliedern an. Doch sein nächstes Wort glich dann schon eher der Herausforderung der Besteigung eines Achtausenders. Denn er wollte unbedingt „Weihnachtsmann“ schreiben. Ich glaube, heimlich bastelt, malt und schreibt er schon am Wunschzettel für den Weihnachtsmann. Hat ja jetzt genug Zeit sich Gedanken zu machen.

So gut wie er das Schreiben bis jetzt hinbekommt, was natürlich maßgeblich der hervorragenden Arbeit seiner Home-Kindergarten-Erzieherin zu verdanken ist, machen wir in weiteren 7 Wochen sein Abitur, falls die Home-Kindergarten-Zeit noch so lange andauert. Ich bereite aktuell ein paar Prüfungsaufgaben vor, die es so richtig in sich haben werden.

Ähnliche Erfolge würde sicherlich auch jede andere Kindergarten-Erzieher(in) oder Mutter/Vatter schaffen, aber wir sitzen halt nun zu Hause fest und können somit keinen Vergleich finden. Also ist und bleibt Georg mein geliebtes Wunderkind.

Dass bringt mich dazu zu fragen: „Was bin ich wert?“. Und bei der Beantwortung der Frage gibt es nur die Antwort, die ich mir selbst geben will, denn wenn ich bürokratisch daran gehe, habe ich verloren.

Wenn ich nämlich, in der Hoffnung meinem Sohn wieder etwas soziale Kontakte zu verschaffen, in den Beschreibungen für die Systemrelevanten Personen stöbere, bekomme ich ne Krise. Erste Feststellung: Mein Wert hängt schon mal davon ab, wo ich lebe. Würde ich nur 8 km weiter westlich in einem Pupsdorf an der A38 wohnen, wären wir nämlich in Sachsen-Anhalt und nicht in Sachsen. Dann würde meine Welt zur Zeit anders aussehen. Ich hätte das Prädikat „Systemrelevant“ und damit „wertvoll“ und Georg dürfte schon wieder mit seinen Kumpels im Kindergarten abhängen und das sogar unabhängig davon, ob der Vater auch wertvoll ist, oder nicht. Aber hier in Sachsen bin weder ich noch mein Mann so wertvoll wie in Sachsen-Anhalt und Georg muss weiter den Ehrgeiz seiner Eltern ertragen und vereinsamt zusehends.

Es hängt also nicht allein davon ab, was man beruflich macht, sondern auch davon, wo man was beruflich macht. Ich gebe zu, ich bin verwirrt, denn ich dachte, die Berufe sind überall gleich wichtig, wertvoll und relevant. Aber das man nun als unrelevant und unwichtig einkategorisiert wird weil man in Sachsen arbeitet, deprimiert mich wirklich.

Das bringt mich zu der zweiten Feststellung und der Lösung unserer Probleme: Ich bleibe einfach Home-Kindergärtnerin, womit ich ja dann eigentlich wieder „systemrelevant“ und „wertvoll“ wäre. Georg könnte mit diesem Prädikat wieder zu seinen Kumpels und unsere Welt wäre ein kleines bisschen glücklicher.
Allerdings schätze ich, dass die Durchsetzung dieser Sichtweise jahrelang die Gerichte beschäftigen könnte. Denn kaum wäre Georg wieder im Kindergarten, wäre ich nicht mehr Home-Kindergärtnerin und somit wieder „wertlos“ und Georg müsste somit wieder nach Hause. Ein Teufelskreis, der kein Ende findet. Den einen oder anderen Richter würde ich damit sicher in den Wahnsinn treiben, was seinen Beruf dann noch „wertvoller“ macht.

Einfacher wäre es dann sicherlich unser Haus nach Sachsen-Anhalt umzuziehen. Da ich aber nun gerne Sächsin bin und ja auch will, dass Georg wieder seine alten Kumpels sieht, muss ich nun geduldig warten, bis mein Bundesland mir die gleiche „Wert“schätzung entgegenbringt wie manch andere. Eigentlich will ich doch nur, das Georg nicht vereinsamt und keinen psychischen Schaden aus der Zeit davonträgt. Ist das denn zuviel verlangt?

Notfalls bewerbe ich mich beim Ordnungsamt in Sachsen-Anhalt, ein wertvoller Beruf mit Zukunft. Damit schlage ich alle Fliegen mit einer Klappe. Ich bin in Sachsen-Anhalt beschäftigt und somit wieder „wertvoll“ und Georg darf hier zu seinen Kumpels. Gleichzeitig habe ich viel zu tun, denn ich stelle mich, wie meine zukünftigen Kollegen es schon tun, auf den Parkplatz des kleinen Tierparks in Lützen, der übrigens aktuell auch ums Überleben kämpft und jeden Euro braucht. Dort kassiere ich die ganzen verzweifelten Leipziger Eltern ab, die tatsächlich dachten, dass sie ihren vereinsamten und elterngestressten Kindern mal eine sinnvolle Ablenkung im nur 5 km entfernten Tierpark gönnen könnten. Pustekuchen, dann gibt es nämlich wegen Aufenthalt in einem anderen Bundesland zu touristischen Zwecken eine satte Strafe im Wert eines Mallorca-Urlaubes. Aber das nennen wir dann natürlich nicht Abzocke, sondern rechtmässige Durchsetzung von geltenden Verordnungen. Damit bleiben die Leipziger Kinder einsam und elterngestresst, die Lützener Tiere hungern so vor sich hin und das Ordnungsamt feiert abends seinen „wertvollen“ Tag.

Ich glaube, ich will doch nicht „wertvoll“ sein, wenn so etwas dabei rauskommt und suche die Antwort auf die Frage „Was bin ich wert?“ lieber in den strahlenden Augen meines Sohnes mit dem ich in 7 Wochen sein Abitur feiere.

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